Im ersten Teil dieses Textes haben wir uns mit den Mechanismen befasst, die zur Herzöffnung führen oder in ihrem Vorfeld geschehen.
In diesem zweiten Teil möchte ich näher auf die Vorgänge eingehen, die während der Herzöffnung relevant sind und die uns, wenn wir diese richtig einordnen, helfen können, noch tiefer zu unserem wahren Selbst zu finden.
Bei den meisten Menschen, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte, geschieht nach der Herzöfffnung häufig der gleiche, fast schon automatische und vorhersehbare Prozess.
Nach einer ersten, oft rauschhaften und teils überwältigenden Phase, in der scheinbar alle Probleme für immer gelöst sind und die Welt in das zauberhaft leuchtende Licht der Liebe getaucht ist, kehrt nach und nach der Alltag wieder ein.
Die Welt verdunkelt sich und wird wieder grau, trostlos und unbeseelt.
Das Herz verschließt sich wieder und eh man sich versieht, steckt man wieder mittendrin im Leid und Unglück dieser Welt.
Nichts hat sich verändert. Der Job ist nach wie vor beschissen, die Partnerschaft kompliziert oder nur eine unerfüllte Sehnsucht.
Und mit dir allein hältst du es auch nicht lange aus.
Rückblickend erscheint dann selbst die Herzöffnung nur wie ein Traum, eine Fantasie ohne jede Bedeutung.
„Was kümmerst du dich auch um so einen esoterischen Quatsch, das bringt doch alles nichts. Such dir lieber einen Freund, arbeite an deiner Karriere und bring dein Leben in Ordnung.
Werd‘ endlich erwachsen! Das haben deine Eltern ja immer schon gesagt“
Ich denke jeder, der über eine oberflächliche Neugierde hinaus tiefer in den Bereich des spirituellen Wachstums eingetaucht ist und bereits erste Öffnungen erfahren hat, ist mit diesen inneren Stimmen vertraut.
Leider habe ich über die Jahre viel zu viele, auch liebgewonnene Menschen erlebt, für die ihre spirituelle Reise an diesem Punkt endet.
Falls du aber zu diejenigen gehörst, die auf ihrem Weg weitergehen und nicht nach den ersten gescheiterten Gehversuchen aufgeben, möchte ich gerne meine Erfahrungen in diesem Bereich mit dir teilen.
Was passiert nach der Herzöffnung und warum verlieren wir sie immer wieder?
Erst einmal müssen wir verstehen, dass wir in diesem Fall nichts falsch gemacht haben und auch nichts schief gegangen ist oder verkehrt ist.
Wir haben auch nicht etwas bereits Erlangtes wieder verloren oder einen Rückschritt gemacht.
Ganz im Gegenteil, auch der Verlust der ersten Herzöffnung ist ein Wachstumsschritt und als solcher ein ganz natürlicher und wichtiger Prozess auf dem Weg des Erwachsens.
Denn letztendlich geht es nicht um die schönen Gefühle der Herzöffnung. Ein daran festhalten wollen ist wieder nur eine weitere Anhaftung, ein Grapschen nach schönen Gefühlen, die sich in nichts von dem Grapschen nach Sex, Macht, Geld oder Ruhm unterscheidet.
Ja, es geht in der Spiritualität nicht einmal um die Herzöffnung.
Es geht immer nur darum, herauszufinden, wer du wirklich bist.
Jede Erfahrung dient einzig und allein dazu, zu deinem wahren Selbst zu erwachen.
Alle Erfahrungen ordnen sich diesem höchsten Ziel unter.
Alle Erfahrungen sind ihrer Natur nach temporär, sie kommen und gehen. Sie sind vergänglich.
Auch die Herzöfffnung ist nur eine Erfahrung und ihrem Wesen nach vergänglich. Sie dient einem höheren Ziel und ist nicht das Ziel an sich.
Wenn du wirklich erwachen willst, musst du bereit sein, alles loszulassen. Du kannst absolut keine Anhaftung mit hinüberretten und wirst auch die paradiesischen Räume deines erwachten Herzens hinter dir lassen müssen.
Was geschieht also im Herzerwachen und wie können wir diesen Vorgang für unser weiteres Erwachen nutzen?
Zuerst müssen wir verstehen, was genau da in uns passiert, wenn wir plötzlich aus dem Kopf herausfallen und uns unvermittelt in dem Raum unseres Herzes wiederfinden.
In der Regel geschieht dieser Vorgang ungeplant und überraschend.
Selbst wenn wir im Rahmen einer spirituellen Therapie darauf hin wirken, bleibt es doch auch dann überraschend, weil wir uns aus unserem Ego-Bewusstsein diese neue Dimension absolut nicht vorstellen können. Es ist immer neu und unbekannt.
Der Kopf kann es sich nicht nur nicht vorstellen, er kann es auch nicht verstehen, da dieser Vorgang vollständing außerhalb der Sphäre des Gedanklichen stattfindet.
Im Grunde wissen wir also gar nicht, was genau da passiert ist.
Wir sind trotz dieser Erfahrung nicht in ein höheres Verständnis aufgestiegen, unser Bewusstsein wurde nicht transformiert.
Denn trotz der Herzöffnung sind wir noch immer die gleichen. Die gleiche Unbewusstheit, die gleiche Anhaftung, das gleiche Verlangen, die gleichen Hoffnungen und Sehnsüchte.
Das gleiche Ego.
Nur dass dieses Ego jetzt auch mit der Herzöffnung spielen kann.
Die Einsicht und damit die Transformation geschieht erst nach dem Verlust der Herzöffnung. Und dann verstehen wir auch, warum wir sie wieder verlieren mussten.
Nach jeder Herzöffnung beginnt das Ego, diese für sich zu reklamieren.
Es versucht die Herzöffnung zu benutzen, um damit beliebter, berühmter und erfolgreicher zu werden oder um damit Geld zu verdienen. Es versucht also, diese Öffnung zu seinen eigenen Zwecken zu missbrauchen, wie es dies auch mit allen anderen unserer Seelenanteile macht.
Eine Zeitlang scheint dieser Missbrauch durchaus auch möglich und erfolgversprechend zu sein.
Doch sehr schnell werden wir bemerken, wie die Herzöffnung anfängt sich erst unmerklich und dann rasent schnell wieder zu verschließen. Denn das Herz wird sich niemals dem Willen des Egos unterordnen. Es ist der eigentliche Herrscher, es ist die Sonne in unserem inneren Kosmos.
Es ist immer frei und zieht sich bei dem Versuch, es zu manipulieren und zu benutzen wieder zurück und verschließt sich.
Wobei diese Aussage nicht ganz korrekt ist, denn das Herz macht im Grunde gar nichts. Es hat mit diesem Ego-Prozess absolut nichts zu tun. Es verweilt in seiner Mitte und wartet Geduldig darauf, dass wir die Reife finden, uns ihm wieder zuzuwenden.
Letztendlich passiert auch keine Herzöfffnung, sondern unser Ego-Bewusstsein, das nur einen winzigen Teil unseres Selbst darstellt, schaut für eine kurze Zeit in die Ewigkeit des Herzens. Und weil wir zu Beginn dieses Prozesses noch vollständig mit dem Ego identifiziert sind, interpretieren wir diesen Blick in unsere eigene Unendlichkeit als Herzöffnung.
Wenn wir dieses Schauen in die Tiefe als Einladung verstehen, uns immer mehr und schließlich gänzlich in diesen Abgrund hineinfallen zulassen, finden wir den Weg aus dem Ego heraus, zurück zu unserem wahren Selbst.
Doch wenn wir dieses kurze Aufblitzen des Göttlichen in uns nutzen, um uns für etwas Besonders zu halten, uns über Andere zu stellen oder um damit weltliche Gelüste zu erringen, wenden wir uns wieder davon ab und landen wieder in den Gefilden der Ego-Verblendung mit ihren Verstrickungen und Selbsttäuschungen, die letztendlich in Leid und Unfreiheit münden.
Das Herz aber ist die Freiheit und es wird immer frei bleiben. Der Sanskrit Begriff für das Herz-Chakra lautet Anahatta – das Unzerstörbare. Es wird sich immer deinem zerstörerischen Zugriff entziehen.
Und doch ist dieser Prozess des kurzen sich Näherkommens und sich dann doch wieder zu verlieren Teil der göttlichen Wahrheit, vom Sein so gewollt und daher richtig und wichtig.
Denn auch die Herzöffnung ist nicht das letztendliche Ziel.
Auch die Herzöffnung dient dem Erwachen, dem immer tieferen Schauen und bewusster werden.
Auch die Herzöffnung dient der Befreiung vom Ego, der illusorischen Trennung von dem einen Ganzen. Denn selbst die Vorstellung, ein eigenes Herz zu haben – MEIN Herz – ist noch Teil der Illusion der Trennung und damit eine Vorstellung des Ego.
Und genau durch diesen Vorgang der Herzöffnung werden die Bereiche des Ego sichtbar und erfahrbar, die sonst auf ewig im Schattenreich versteckt geblieben wären.
Also die Teile des Ego, die bereits resigniert und aufgegeben haben aber ganz tief unten im Verborgenen immer noch auf ihre Chance warteten, wenn ihre Zeit endlich gekommen ist.
Durch die Herzöffnung werden sie wieder aktiviert und reanimiert, sodass wir uns ihrer gewahr werden, sie verstehen und durchschauen und uns dadurch von ihnen freimachen können.
Man sagt ja, Macht korrumpiert.
Wie viele Freiheitskämpfer und Revolutionäre, die mit den höchsten Idealen und scheinbar aus Mitgefühl für die Menschheit sich auf den Weg gemacht haben, werden, wenn sie selber an der Macht sind, zu den schlimmsten Diktatoren und Tyrannen, die ihre Schattenseiten hemmungslos ausleben.
Warum ist das so?
Ganz einfach: weil sie es können.
Genau das Gleiche passiert in der Herzöffnung. Alle Bereiche, die bisher im Dunkeln lagen, werden jetzt mit Licht beschienen und fangen an zu erblühen.
Jetzt endlich kannst du alles, von dem du glaubtest, dass du es in diesem Leben niemals erreichen wirst, im Verborgenen aber immer deine Sehnsucht war, mit der Hoffnung auf Erfolg ausleben.
Das Herz ist wie die Sonne, die ihr Licht ohne Unterschied auf alles scheint, auf Gute und Böse, auf Täter und Opfer.
Das Herz wertet nicht, es erlaubt allem zu sein, auch dem Schatten.
Denn es weiß, nur so kann er zu Licht werden.
Einige Menschen, die auf ihrem Weg schon weiter und klarer ausgerichtet sind, sind vor dem Missbrauch der Herzöffnung bereits gefeit und können mit dem Sog der Maras, der Versuchungen, sich wieder in der Welt der Formen durch Verlangen und Begehren zu verstricken, besser umgehen.
Ihre Leidenschaft für die Wahrheit, für die Suche nach ihrem wahren Selbst, ist bereits stark genug ausgeprägt um nicht mehr vom Weg abzukommen.
Doch wenn sie mit den Gegebenheiten der inneren Welt noch nicht ausreichend vertraute sind, lauert hier eine weiterte Weggabelung, an der man falsch abbiegen kann.
Wenn das Herz sich öffnet, ist dies mit einem Tor zu vergleichen, dass sich nach Innen öffnet und den Blick in die Tiefe freigibt.
Und was wir da sehen, sind eben genau die unterrückten und unerlösten Ego-Anteile, deren Anwesenheit wir vor der Öffnung nicht einmal geahnt hatten.
Dies kann zu einem großen Erschrecken führen und dem unbewussten Impuls, diese Schattenanteile abzulehnen, zu bekämpfen und herausdrücken zu wollen.
Auch das ist Ego.
Wir wollen diese Teile nicht bei uns haben, weil sie nicht in unser Selbstbild passen.
Aber jedes Selbstbild ist nur eine Phantasie, eine Illusion und niemals real.
Es ist Teil des Traums und nicht Teil des Erwachens.
Es macht keinen Sinn, gegen deine jetzt sichtbaren Schatten anzukämpfen.
Du kannst diesen Kampf nur verlieren, denn letztendlich ist es ein Kampf gegen dich selber.
Deine Schatten wollen nicht unterdrückt werden, sie wollen gesehen und geliebt, zurück ins Licht geholt werden.
Und das ist nur mit Hilfe der Herzöffnung möglich.
Du musst dem Herzen erlauben, alles auszuleuchten.
Auch alle dunklen, bösen und fiesen Bereiche deiner Selbst.
Anders ist Erwachen nicht möglich. Du wirst auf ewig in dem Gefängnis deinen Vorstellungen und Wertungen gefangen bleiben.
Wir sehen also, dass weder das Nachgehen noch das Unterdrücken unserer Schattenthemen uns auch nur einen Schritt weiterbringt.
Was können wir denn dann überhaupt tun?
Sind wir diesem Vorgang hilflos ausgeliefert, auf ewig ein Spielball unbewusster Triebe und Impulse.
Ja, wenn du dich entscheidest unbewusst zu bleiben.
Nein, wenn du ihn als Chance begreifst, bewusst zu werden
In dieser Situation ist es absolut wichtig, wach und bewusst zu bleiben und genau mitzubekommen, wie das Ego versucht das Herz zu manipulieren und unter seine Kontrolle zu bringen.
Ein Andrücken dagegen ist vollkommen sinnlos, denn der größte Freund des Ego ist der Wunsch, das Ego nicht sehen zu wollen. Das Ego nicht an die Oberfläche kommen zu lassen ermöglicht ihm, sich weiter im dunklen Unbewussten zu verstecken und unser Leben von dort aus zu vergiften.
Das Ego versteckt sich gerne hinter edlen Absichten.
Wenn während der Herzöffnung diese Manipulationsversuche und der Wunsch, das Herz zu besitzen auftauchen, gibt es nur einen Weg. Du musst wach bleiben, dir diesen Vorgang ganz genau anzuschauen und spüren was passiert. Dadurch erkennst und verstehst du das Ego – und dann kannst du es fallen lassen.
Ja, es fällt nicht einmal ab, denn es hat nie eine eigene Realität gehabt außer deine Unwissenheit, deine Illusion und Verblendung.
Du brauchst es auch nicht fallen zu lassen – im Erkennen wird das Ego als reine Illusion durchschaut. Es hat nie existiert, hatte nie eine eigene Realität. Es existierte nur in deiner Vorstellung.
Auf diese Weise wächst das Bewusstsein immer tiefer, bis das Ego bis an seine Wurzel durchdrungen, durchschaut und damit aufgelöst wurde.
Erwachen ist keine Erfahrung, es ist ein Erkennen.
Und du erkennst das, was schon immer da war.
Alles andere war nur ein Traum.
Du, als vom Ganzen getrenntes „Ich“ warst nur ein Traum.
Es war alles nur ein Traum.
Du hast geträumt und nun bist du wach.
Willkommen zurück.
Manik, Juli 2018